Ausgezeichnete Jungautorin
Ende 2017 wurde der 75. Geburtstag Peter Handkes ist Kärnten im großen Stil gefeiert. Anfang Februar 2018 erhielt der Schriftsteller von Weltrang den Kärntner Landesorden in Gold – und das Robert-Musil-Institut der Universität Klagenfurt rief zu Ehren des Jubilars einen Schreibwettbewerb mit dem Titel Wieder holen Handke aus.
Melanie Suette, zu diesem Zeitpunkt angehende Maturantin der Praxis-HAK Völkermarkt, ergriff die Chance und nahm – nicht zum ersten Mal – erfolgreich an einer solchen Ausschreibung teil. Im Rahmen einer Handke-Nacht in der Klagenfurter Bahnhofsstraße, bei der auch Personen des öffentlichen Lebens wie Landeshauptmann Peter Kaiser oder ORF-Landeschefin Karin Bernhard aus den Texten des großen Sohnes Griffens lasen, wurde Suette überraschend als Zweitplatzierte geehrt.
Doch damit nicht genug: Auf Vermittlung von Griffens Bürgermeister Josef Müller gelangte der Text sogar zu Handke, der ihn mit einer Grußbotschaft an die junge, selbst aus Griffen stammende Autorin versah.
Lesen Sie nachfolgend den Text Melanie Suettes:
Wieder holen Handke
Zuerst scheint sie ganz und
groß und für immer nur hier, doch dann gehst du weg und nimmst sie mit dir,
lässt Teile von ihr und dir an verschiedenen Orten, merkst nicht, dass du dich
verlierst und sie dich nicht hält – bis ihr wahres Bild schließlich zerfällt.
Und du, du sie nur fest hältst in deiner Erinnerung, damit du dir sagen kannst:
Du kannst doch zurück, wann immer du willst, wohin soll sie schon gehen, die
Heimat?
Dann kehrst du zurück. Zurück
an den Ort, an dem dich jeder nur kennt als der, der du warst, und nicht als
der, der du geworden bist und an dem der generelle Konsensus herrscht, dass
sich nichts verändern darf, obwohl sie es ständig tut. Sie, die Heimat. Und du
denkst, du wirst sie dort wiederfinden, doch alles, was du siehst, ist der Rest
ihres Schwindens, denn während du weg warst, ist sie dir entflohen, du hast sie
diesem Ort entrissen, hast sie zerstückelt, verteilt, an Menschen, Orte,
Momente und an die Zeit. Lauter Dinge, die nur allzu schnell schwinden. Du
kannst nicht erwarten, dass er alleine besteht, ein Ort namens Heimat, der
niemals vergeht. Im Moment des Verlassenwerdens ist es um ihn geschehen, den
Ort, den du Heimat nennst.
So wie er jetzt ist, wirst du
ihn nie wiedersehen. Auch die Menschen, die dir einst so vertraut waren, sind
jetzt nicht mehr dieselben, so wenig wie du es bist.
Doch das ist alles nicht
wichtig, denn das ist es nicht, was Heimat ist. Heimat bedeutet nicht keine
Veränderung und immer dieselben. Heimat ist gemeinsam in Erinnerungen zu
schwelgen, sich auf Wiedersehen zu freuen, jemanden zu haben, den du niemals
verlieren willst und die Vertrautheit von Menschen und Orten zu genießen. Es
ist dich irgendwo und mit jemandem wohl zu fühlen, zu wissen, dass du
zurückkehren kannst und das Wissen, dass du wo hingehörst. Heimat ist: Zu
wissen, dass du nicht alleine bist.
Ihre Lippen
zitterten, als koste es alle Willensstärke, die sie besaß, um sie nicht zu
einer Grimasse zu verziehen, ihre Augen, die starr auf die Wand vor ihr
gerichtet waren und deren Glanz bereits vor einiger Zeit verloren gegangen war,
schienen zu weit geöffnet, um wirklich etwas zu sehen, und die tiefen Furchen
in ihrer fahlen Haut dienten als verräterische Zeugen der Zeit. Ihre Hände
waren fest ineinander verschränkt, die Fingernägel gruben sich in ihre
Handballen, wo sie rote Halbmonde hinterließen, die einen gespenstischen
Gegensatz zu ihrer kränklichen Hautfarbe darstellten. Strähnen der einst
dunklen Haare fielen ihr ins Gesicht, ihre Brust hob und senkte sich fast schon
rasant, ihr Atem ging dafür, dass sie nur still dasaß, viel zu schnell. Das nur
spärlich beleuchtete Zimmer, in dem ihr jede Ecke bestens vertraut sein sollte,
ließ sie nun völlig fremd erscheinen, als gehöre sie nicht an diesen Ort.
Vielleicht war er ihr einst ein Zuhause gewesen, nun war er es nicht mehr. Nun
war sie nirgends mehr zuhause. Sie blinzelte und spürte, wie das Gewicht, das
plötzlich auf ihrem Brustkorb zu Lasten schien, schwerer wurde, ihre Gedanken
wurden wirrer und bei dem Versuch, sie wieder zu ordnen, zogen viele
Erinnerungen aus der Vergangenheit an ihr vorbei, bei deren Anblick auch ihrer
Seele schwer wurde. In ihrem Leben hatte sie viele Orte und Menschen gefunden,
die für sie Heimat waren, doch nie etwas, das blieb. Es war, als wäre es ihr nicht
vergönnt, sich endlich irgendwo zuhause zu fühlen, als wäre es ihr nicht
möglich etwas zu finden, an das sie sich halten und zu dem sie zurückkehren
konnte, etwas, das sie davon abhielt, sich selbst zu verlieren. Es war nicht
so, als wäre sie nie glücklich gewesen, doch letzten Endes fühlte es sich so
an, als wäre sie immer auf der Suche. Und nun war sie müde. Sie war müde davon,
sich fremd zu fühlen in ihrer eigenen Welt, war es leid, immer weiter zu suchen
und zu verlieren, hatte genug davon zu kämpfen. Sie hatte versucht, die Heimat
zu finden, in Orten, in Menschen, in Gefühlen, doch sie war ihr immer wieder
entflohen, wie der listige Schatten von etwas, das sie niemals besitzen sollte
und wovon sie immer wieder genug sah, um es mehr zu wollen als alles andere auf
dieser Welt. Sie wollte es endlich spüren. Ein Gefühl von Heimat, das niemals
vergeht. Ein Nachhausekommen, von dem sie schon seit gefühlter Ewigkeit
träumte. Ein Ort, an den sie passte, ein Gefühl, das ihr niemals wieder jemand
nehmen konnte. Eine Heimat, die sie niemals wieder verlassen musste, etwas, das
ihr nie wieder jemand nehmen konnte. Und mit diesen Gedanken schloss sie ihre
Augen.
Ich habe mich eingesperrt
gefühlt. Jeder neue Tag ist mir wie die Wiederholung des letzten vorgekommen
und jede neue Woche wie eine Wiederholung der vorherigen. Die Tage sind
gekommen und gegangen, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen, ohne einen
Unterschied in meinem Leben gemacht zu haben. Meine Heimat, die mir wie die
Ewigkeit vorgekommen ist, ist mir bis in den letzten Winkel bekannt gewesen und
hat mit zunehmenden Tagen immer weiter an Farbe verloren, bis ich mich gefühlt
habe, als würde sie mir selbst die Farbe entziehen, mich grau werden lassen,
ganz wie sie selbst. Die wohlige Wärme und Vertrautheit, die Sicherheit dieses
Ortes und die Bekanntheit der Menschen in ihm haben angefangen mich anzuekeln,
es war, als würde sich ihre Enge langsam wie eine Schlinge um meinen Hals
ziehen und mich für immer festhalten, sollte ich ihr nicht bald entkommen. Die
Bequemlichkeit der Menschen und ihre Zufriedenheit darüber, an einem Ort zu
leben, an dem sie alles und jeden schon ewig gekannt hatten, ihre Freude
darüber, nie etwas ändern zu müssen, und das Fehlen ihrer Begeisterung für
Neues, Angsteinflößendes, hat in mir das Verlangen geweckt, niemals zu werden
wie sie.
Es ist mir nicht mehr möglich gewesen, mich noch länger in der Sicherheit des Bekannten und Behaglichen zu wiegen, vor allem da diese Gefühle eine Unruhe in mir geweckt hatten, die sich nur mit einem Gefühl der Freiheit besänftigen ließ. Ich habe das kalte Wasser spüren müssen, den rauen Wind auf meiner Haut, das Gefühl der Aufregung, die Angst und Berauschung, die Neues mit sich bringt. Mein ganzes Wesen hat darauf gepocht sich loszureißen von den so wahrgenommenen Ketten der Heimat. Ich habe verstanden, dass ich nie wirklich zuhause sein konnte. Dass ich niemals wirklich zuhause sein werde, nicht bevor ich nicht an Orten gewesen bin, die sich überhaupt nicht anfühlten wie Heimat.