1918-1968-2018: Kreative Rückblenden
Meine ersten drei deutschen Wörter: „Ein Brot, bitte“
Oder: Wo ist Heimat?
Von Nejra Ibrahimović, Schülerin der 4BK | Dezember 2018
Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen und in ein anderes, noch unbekanntes Land als Kriegsflüchtlinge flüchten müssen, haben es nicht gerade einfach im Leben. Man erlebt viele Höhen und Tiefen. Kurz zu meiner Person, ich heiße Mensur Ibrahimović und bin 42 Jahre alt. Ich wurde am 3. Dezember 1976 in Brčko, Bosnien und Herzegowina, geboren. Ich habe mit meinem älteren Bruder, meinem Vater und meiner Mutter in Brčko gelebt. Ich war ein sehr anstrengendes und lebhaftes Kind, erzählt mir mein Vater. So wie jedes Kind musste ich natürlich auch in die Volksschule und Hauptschule. Ich erinnere mich gerne an diese Zeit zurück, sie war so schön und unbeschwert. Mit der Zeit habe ich meinen Vater immer seltener gesehen, weil er damals angefangen hat in einer Firma in Österreich, genauer gesagt in Feldkirchen, als Leiharbeiter zu arbeiten. Ich kann mich gut erinnern, wie er an Freitagabenden zu uns gekommen ist und sonntags, ganz in der Früh, wieder nach Österreich gefahren ist. Er hat meinem älteren Bruder und mir meistens Spielsachen gebracht. Aber die haben mich ehrlichgesagt nicht interessiert. Wir hatten wegen meines Großvaters, im Gegensatz zu anderen Familien, Gott sei Dank keine Geldnöte.
Ich bemerkte immer öfter, dass Menschen plötzlich angefangen haben, sich anders zu verhalten. Sie wurden von Tag zu Tag immer panischer und ängstlicher. Aber ich wusste natürlich zu dieser Zeit nicht, was ein Krieg ist. Ich hatte so etwas ja noch nie zuvor erlebt. Kindergedanken sind halt eben Kindergedanken. Woher sollte ich auch wissen, dass ein Krieg etwas so Schlimmes ist? Eines Tages schließlich zerbrach alles.
Ich sage, man konnte die Angst und die Anspannung in der Luft spüren.
Mein Vater wollte nicht, das wir, seine Familie, im Krieg bleiben und dass uns etwas passiert. Im Mai 1992 hat er beschlossen, uns alle zusammen nach Österreich zu bringen. Mir war das überhaupt nicht recht. Ich wollte meine Heimat und meine Freunde, die wie eine Familie für mich waren, nicht verlassen. Ich wollte nicht gehen. Ich habe mich sehr stark dagegen gewehrt. Aber gegen seine Eltern kommt man ja bekanntlich nicht an. Besonders nicht gegen meinen Vater.
Also machten wir vier, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und ich, uns auf den Weg nach Österreich. Wir fuhren alle zusammen mit dem Auto. Leider erinnere ich mich nicht mehr, wie die Fahrt war. Ich werde oft gefragt, wie ich mir Österreich vorgestellt habe. Ich hatte gar keine Vorstellung von Österreich, weil ich gar nicht nach Österreich wollte. Es interessierte mich nicht, ich wollte nur zurück Nachhause. Zurück in meine Heimat.
Als wir endlich in Österreich angekommen sind, war alles neu für mich. Die ersten paar Tage waren sehr schwer. Ich kannte dort niemanden, die Gegend war mir auch völlig neu und unbekannt und das Schwierigste für mich war, ich konnte kein einziges Wort auf Deutsch. Es war so, als wären es zwei verschiedene Welten gewesen. Von heute auf morgen hat sich mein komplettes Leben verändert. Wir haben, alle zusammen, die ersten zehn Tage in der Firma im Arbeitsraum meines Vaters gewohnt. Der Raum acht Quadratmeter klein und wir vier haben uns dieses Zimmer geteilt.
Ich war damals sechzehneinhalb Jahre alt.Ich habe mich gefürchtet, und nahezu jeden Tag geweint. Es war alles so unbekannt für mich. Ich habe um meine zurückgebliebenen Freunde und Familien geweint, die in diesem Kriegschaos geblieben sind. Ich wollte einfach zurück nachhause, das war mein Ziel. Ich wollte sogar allein zurückreisen, aber meine Dokumente waren bei meinem Vater, also wurde daraus nichts. Als ich realisiert habe, dass der Krieg immer schlimmer wurde, wurde auch mir klar, dass ich nie wieder nachhause in meine Heimat gehen würde. Der Krieg hatte sich dramatisch verschlimmert.
Der einzige kleine Trost war, dass andere jugoslawische Familien von anderen Arbeitern in der Nähe gewohnt haben. Ein paar Tage nach meiner Ankunft hatte ich den ersten Kontakt mit der österreichischen Außenwelt. Und zwar gab mir mein Vater Geld in die Hand und sagte mir, ich solle zu der nahegelegenen Bäckerei gehen. Er meinte zu mir, ich solle nur sagen: „Ein Brot, bitte“. Das waren meine ersten deutschen Wörter. Was mich heute aber selbst wundert, ist, dass ich gar keine Angst mehr hatte. Ich war plötzlich neugierig geworden und war bereit, Neues zu entdecken. In der Bäckerei angekommen, sagte ich dann meine ersten deutschen Wörter: „Ein Brot, bitte“.
Die Verkäuferin sah mich an und fing an, mir Fragen zu stellen. Ich hatte keine Ahnung, was sie mich fragte. Sie zeigte auf verschiedene Arten von Brot, wahrscheinlich fragte sie mich, welche Sorte ich wollte. Aber da ich sie nicht verstand, sagte ich die ganze Zeit nur: „Ein Brot, bitte“. Und sie fragte mich wieder etwas und ich antwortete darauf wieder mit „Ein Brot, bitte“ und hielt ihr das Geld hin. Die Frau hat mir irgendein Brot eingepackt und mir mein Wechselgeld gegeben.
Als alle Dokumente fertig waren, zogen wir von Feldkirchen nach Oberglan um. Die Wohnungssuche war nicht einfach. Die Vermieter waren sehr skeptisch und wollten kein Risiko eingehen. Ich weiß nicht warum, aber ich kann mir vorstellen, dass sie damals Angst hatten, weil sie wussten, dass wir Kriegsflüchtlinge waren. Aber wir haben unser ruhiges Plätzchen gefunden und für uns war es Zeit, in die Schule zu gehen. Ich besuchte eine Schule in Villach, die ich jeden Tag durch ständiges Umsteigen erreicht habe. Ich musste vier Mal den Bus wechseln und zwei Mal mit dem Zug fahren. Ich musste jeden Tag sehr früh aufstehen, um keinen Bus bzw. Zug zu verpassen. Mit der Zeit hat mich das sehr müde gemacht. Das haben natürlich auch die Lehrer gemerkt, und die haben gesagt, ich sollte mir eine andere, näher gelegene Schule suchen. Leider gab es keine passende Schule in meiner Nähe. Ich war sehr traurig, als ich die Schule verlassen musste. Ich hatte mich mit allen verstanden. Mit den Lehrern und den Mitschülern.
Dann, mit 18 Jahren, habe ich angefangen, in der Baubranche zu arbeiten. Es hat mir viel Spaß gemacht, weil wir fast jeden Tag neue Orte gesehen haben. So habe ich Österreich und seine schönen Orte kennengelernt. Auch durfte ich viele Erfahrungen mit Menschen, die sehr positiv eingestellt gegenüber Flüchtlingen sind, sammeln. Natürlich gab es auch Menschen, die das genaue Gegenteil waren, aber die gibt es überall. Ich wurde zum Beispiel wegen meiner Herkunft nie ausgegrenzt. Ich kann es mir selbst nicht erklären warum. Vielleicht liegt es daran, dass auch ich sehr offen gegenüber Kulturen bin und selbst neugierig dem typisch österreichischen Leben gegenüber bin. Für mich sind Lederhosen, Dirndl und Reindling typisch österreichisch.
In Sache Migranten gibt es bei den Österreichern natürlich auch Meinungsverschiedenheiten. Verglichen mit früher hat sich jetzt nicht viel verändert. Doch der Großteil, meiner Meinung nach, hat in der jetzigen Zeit mehr Angst als früher. Aber ich glaube das liegt daran, dass einige Dinge in der Öffentlichkeit falsch verstanden, verbreitet oder interpretiert werden.
Grundsätzlich kann und will ich mich nicht über Österreich beschweren. Österreich hat eine gut funktionierende Regierung und Verwaltung. Das Land ist an sich gut organisiert und es bietet die Möglichkeit, seine Träume – natürlich mit Arbeit – zu verwirklichen und zu leben. Mir ist Österreich sehr wichtig, denn ich sehe für meine Familie und mich eine gute und vor allem sichere Zukunft in Österreich. Ich sehe Österreich als zweites Heimatland. Ich fühle mich zuhause in Österreich.
Ich weine nicht mehr abends im Bett und möchte nicht zurück nach Brčko. Natürlich stelle ich mir auch die berühmte Was-wäre-wenn-Frage. Aber schlussendlich bin ich froh, dass meine Familie und ich hier sind. Ich sehe Österreich als Heimat, denn Heimat ist für mich kein Ort. Heimat ist dort, wo die Menschen sind, die Menschen, die du liebst und die dich lieben. Und solange ich mit meiner Ehefrau und meine drei wundervollen Töchter zusammen bin, habe ich dieses Gefühl von HEIMAT.