1918-1968-2018: Kreative Rückblenden
Zeitkapsel an Urenkel
Zum Projekt 1968
Von Carmen Schweiger, Schülerin der 3BK | Dezember 2018
Liebes Urenkerl,
ich bezweifle es zwar sehr, dass du diesen Brief hier jemals in unserem Keller im alten Haus finden wirst, jedoch bezweifle ich es nicht, dass dich diese Geschichte interessieren wird. Es geht um meine Geschichte, was ich in meinem Leben erlebt habe…
Ich bin in einer nicht besonders reichen Familie groß geworden, das heißt, ich musste so schnell wie möglich aus der Schule kommen, also die Pflichtschule abschließen und dann arbeiten gehen.
Die Schulzeit war jedoch nicht so angenehm, wie es jetzt wahrscheinlich bei dir ist. Es gab strenge Regeln, die befolgt werden mussten, ansonsten hatte man mit Konsequenzen zu rechnen. Oftmals musste ich in der Ecke stehen. In unserer Klasse war eine Art Ofen, dadurch wurde das Eckenstehen zur reinsten Qual, da sich dieser genau in diesem Eck befand. Eine meiner Mitschülerinnen musste einmal in der Ecke stehen und ist plötzlich umgekippt, was den Lehrer nicht wirklich berührt hat. Ein anderes Mal musste ein Freund von mir auf einem Scheitel knien. Das heißt, auf der Kante eines Holzstückes knien. Dies war alles andere als angenehm, da kann ich aus eigener Erfahrung sprechen. Es fühlte sich an, als würde sich diese Holzkante in dein Knie bohren. Wenn man dann aufstehen durfte, hatte man noch immer das Gefühl der Kante auf der Haut.
Oftmals wurde uns auf die Finger geschlagen, dies gehörte aber schon fast zur Tagesordnung. Dieses Brennen nach dem Schlag werde ich wohl nie vergessen! Man hatte danach rote Finger, die ab dem ersten Moment brannten. Dass man sich gegen den Lehrer wehrte, gab es schon gar nicht. Wenn man dies versuchte, wurde das dem Sekretariat gemeldet und – wie du es dir wahrscheinlich denken kannst – war der Lehrer immer im Recht und man bekam noch schlimmere Strafen.
Zur Schule mussten wir immer ordentlich und sauber angezogen kommen, sonst warf das ein schlechtes Bild auf einen oder man wurde wieder nach Hause geschickt. Ich hatte nur zwei oder drei verschiedene Kleidungen, die ich täglich waschen musste, damit sie so bald wie möglich wieder trocken waren.
Meine Eltern wollten, dass ich einen guten Abschluss mache und so eine gute Arbeit bekomme, bei der ich viel Geld verdiene. Meine jüngere Schwester musste ich damals immer und überall mitnehmen. Auch wenn es manchmal richtig anstrengend war, machte ich es oft auch gerne. Irgendwann sind wir umgezogen, weil mein Vater seine Arbeit verloren hatte und wir uns die Wohnung in der Stadt nicht mehr leisten konnten. Wir sind etwas außerhalb in ein Zimmer eines Hauses gezogen. Es war ein Haus mit mehreren Wohnungen. Eine dieser „Wohnungen“ umfasste jedoch nur zwei Zimmer, wobei eines davon die Abstellkammer war, in der man sich kaum umdrehen konnte. Wir schliefen also zu sechst in einem Zimmer. Der ganze Alltag spielte sich in diesem Zimmer ab. Dazu hatten wir noch eine kleine Küche und ein kleines Bad mit Dusche, Toilette und einem Waschbecken. Dieses Haus stand auf dem Grund eines Bauern. Damit wir nicht so viel bezahlen musste, stand ich jeden Morgen um fünf Uhr auf und half im Stall. Danach zog ich schnell was anderes an und lief in die Schule. Das Umziehen brachte aber nicht viel gegen den Gestank des Kuhstalls, der noch an meinen Haaren haftete.
Um zur Schule zu gelangen, musste ich über einen Hügel gehen, der besonders steil war. Die Überquerung dieses Hügels erwies sich im Winter als besonders problematisch, da nie Schnee geschoben wurde. Zu Hause zu bleiben kam jedoch gar nicht in Frage.
Die ganze Hippiebewegung und die vielen Demos, die irgendwo stattfanden, bekam ich nur am Rande mit. Unser kleiner Radio hatte nämlich ein nicht besonders gutes Signal. Aber damit beschäftigte ich mich gar nicht so ausführlich.
Kommen wir zurück auf die Schule. Nach der Volksschule, die acht Jahre dauerte, begann ich eine Lehre. Die Schule hatte ich gut abgeschlossen und nun würde das „richtige“ Leben auf mich warten. Dass ich studieren gehen wollte, kam für meine Eltern gar nicht in Frage, deshalb habe ich das auch nie angesprochen. Der Grund war nicht zuletzt, dass wir wenig Geld hatten, an meinem Fleiß oder meiner Intelligenz wäre es nicht gescheitert. Mein Zeugnis war nämlich immer sehr zufriedenstellend.
Ich begann also eine Lehre zum Käserer. Es machte mir eigentlich großen Spaß und ich machte einen sehr guten Abschluss. Von einem Auto oder ähnlichem konnte ich zu dieser Zeit nicht einmal träumen. Mit meinem kleinen Gehalt als Lehrling konnte ich mir nicht einmal eine Wohnung leisten, weshalb ich lange bei meinen Eltern gewohnt habe. Dass man unter 18 eine Freundin oder Freund hat, war zu der Zeit undenkbar. Meine Schwester hatte dann mit fast 17 heimlich einen Freund, von dem nur ich etwas wusste. Sie hat es geheim gehalten, bis sie 18 war. Ob das in jeder Familie so war, wusste ich zu dieser Zeit nicht. Aber über so etwas gab es gar keine Diskussionen. Es wurde generell sehr wenig geredet, schon gar nicht über etwas Persönliches. Was die Eltern sagten, wurde ohne Wiederspruch getan, egal ob man es für gut oder schlecht empfand. Wenn man zu Hause wohnen wollte, musste man es tun. Anderenfalls bekam man sofort eine Ohrfeige oder anderes.
Wir mussten alle im Haushalt und eben am Bauernhof mithelfen. Damals hielt die ganze Familie zusammen und tat alles, damit es allen gut ging, weshalb man auch niemals ein Geheimnis weitererzählte. Wir Kinder hatten einige Geheimnisse untereinander, die bis heute keiner weiß. Diese Zeiten haben mich sehr geprägt. Ohne arrogant wirken zu wollen: Ich bin wirklich stolz auf mich. Ich hoffe, dass du etwas aus deinem Leben machst. Ich wünsche dir nur das Beste.
Mit lieben Grüßen und den besten Wünschen für deine Zukunft!
Dein Urgroßvater