1918-1968-2018: Kreative Rückblenden
Tagebucheintrag vom 5. Oktober 1968
Von Florian Stojec, Schüler der 3BK | Dezember 2018
Lieber Leser dieses Tagebuches,
wenn du diese Zeilen liest, bin ich bereits verschwunden. Weggelaufen aus meiner verhassten „Heimat“, weg aus dieser verfluchten erzkonservativen Hölle. Du wirst dich nun sicherlich fragen, warum ich diesen Schritt gewagt habe. Wenn du weiterliest, wirst du den Grund erfahren.
Nun, man sollte vielleicht wissen, dass ich nicht so wie alle anderen Mädchen in meiner Schule oder meinem Dorf bin, denn ich habe ein großes Geheimnis, das ich vor allen verheimlichen muss: Ich bin lesbisch. Dieser Fakt allein würde wahrscheinlich schon reichen, in meiner Heimat einen großen Skandal auszulösen, denn – wie du weißt – wird Homosexualität bei uns zutiefst verachtet und verteufelt. Aber dazu kommt noch, dass ich vor meiner „Flucht“ ein katholisches Internat besucht habe. Lesbisch sein und in einem katholischen Dorf leben und noch dazu ein streng katholisches Internat besuchen, diese Kombination passt nun aber mal absolut nicht zusammen. Das konnte doch nur im Desaster enden. (Übrigens hat diese Zeit im Internat auch meine Abneigung gegen die Religion gesteigert, denn in diesem Fach wurde wohl am meisten homophober Blödsinn verbreitet. Aber was will man denn von Menschen erwarten, die an Sachen aus einem 2000 Jahre alten Buch glauben?)
Mit etwa 15 Jahren bemerkte ich, dass ich auf Mädchen stehe, da ich mich in eine Mitschülerin verliebt hatte. Normalerweise ist verliebt sein doch etwas Schönes, oder? Nicht bei mir, oh nein, absolut nicht! Wir kamen zwar zusammen, da sie sich auch in mich verliebt hatte, doch wir beide waren dazu gezwungen, unsere Beziehung geheim zu halten. Wenn wir erwischt worden wären, wären wir nicht nur von der Schule geflogen, sondern mit Sicherheit auch verhaftet worden, denn Homosexualität ist tatsächlich noch strafbar. Dieses Versteckspiel war für uns beide seelisch belastend, wir durften unsere Beziehung nie offen ausleben. Außerdem durften wir auch unseren Eltern nichts davon erzählen, da diese wahrscheinlich ausgeflippt wären und uns rausgeworfen und verstoßen hätten.
Mit der Zeit hatten wir genug von allem. Man muss sich das einfach mal vorstellen: In der Schule wird einem dauernd gepredigt, dass Homosexualität unnatürlich sei, zuhause wird einem auch nochmal gesagt, dass Lesben und Schwule krank und abartig wären und in meinem Freundeskreis war es auch gleich schlimm. Nachdem ich also nie mit irgendjemandem außer ihr darüber reden konnte, versuchte ich mich anzupassen, um ja nicht aufzufallen. Ich tat so, als würde ich auf Jungs stehen, behauptete sogar im Gespräch mit meinen Freundinnen, in einen Jungen verliebt zu sein. Schnell merkte ich allerdings, dass mich dies nicht glücklich machte. Ich wollte so sein, wie ich nun einmal war und nicht so, wie die Gesellschaft mich haben wollte. Außerdem wurde unsere Beziehung, also die zu meiner Liebsten, auf eine harte Probe gestellt, wir waren sogar kurz davor uns zu trennen, stell dir das doch mal vor!
Die größte Liebe meines Lebens verlassen, nur wegen dieser beschissenen Faschos und ewig gestrigen Spießer! Bin ich froh, dass es nicht so weit gekommen ist, denn diesen Fehler hätte ich mir wahrscheinlich niemals verzeihen können. Irgendwann hatten wir beide genug. Genug vom Versteckspiel, genug vom Internat, das uns nicht frei leben ließ, und auch genug von der spießigen, prüden Umgebung, in der wir uns zu bewegen gezwungen waren. Mittlerweile sind wir beide 18 Jahre alt und haben einen Entschluss gefasst: Wir werden verschwinden, irgendwohin, wo wir so sein können, wie wir sind, und uns nicht verstecken müssen. Wir werden niemandem davon erzählen, niemand wird jemals wieder von uns hören. Und ich werde nie wieder einen Fuß in dieses Dorf setzten, welches mich drei Jahre lang davon abgehalten hat, mein Liebesleben und meine Neigungen offen auszuleben.